Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit

Organisatoren
Technische Universität Dresden, Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“, Projekt S „Institutionelle Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit“
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.12.2007 - 15.12.2007
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Von
Grit Loitzsch

Am 14. und 15. 12. 2007 fanden sich im Besprechungsraum des Europäischen Graduiertenkollegs „Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole/ Ordres institutionnels, Ecrit et Symboles“ vierzehn WissenschaftlerInnen zusammen, um über „Formen, Medien und Orte von Öffentlichkeit in der vormodernen Stadt“ zu diskutieren. Mit dem Workshop sollte die Zusammenarbeit der frühneuzeitlich ausgerichteten Projekte der Sonderforschungsbereiche aus Gießen, Konstanz, Münster und Dresden intensiviert sowie ein Forum für Nachwuchswissenschaftler/innen etabliert werden. In seiner Eröffnung stellte GERD SCHWERHOFF (Dresden) die zentralen Inhalte des veranstaltenden Teilprojekts „Institutionelle Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit“ kurz vor, bevor er zum Tagungsschwerpunkt, dem Begriff und sozio-kulturellen Feld der Öffentlichkeit überleitete. Er umriss die Leistungen von Historikern, die im Anschluss an Jürgen Habermas’ Modell vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ differenzierende Feinanalysen lieferten, welche eine Vordatierung der Entstehung einer modernen bzw. laut Habermas „bürgerlichen“ Öffentlichkeit erforderten. Schwerhoff regte außerdem dazu an, über geeignete Alternativen zum Habermas’schen Ansatz nachzudenken und verwies exemplarisch auf Rudolf Schlögls Konzept einer Anwesenheitsgesellschaft. Als Probleme im Umfeld des Forschungsgegenstandes Öffentlichkeit hob Gerd Schwerhoff drei zentrale Fragen hervor, die den Rahmen für die folgenden zwei Tage bilden sollten: Die Frage nach der Konstitution bzw. Verstetigung von Öffentlichkeit, die nach der Ordnung oder der räumlichen Wahrnehmung von Öffentlichkeit sowie die Frage nach der Partizipation bzw. der Wirkung von Öffentlichkeit.

ALEXANDER SCHLAAK (Konstanz) und CHRISTIAN HOCHMUTH (Dresden) boten in dem anschließenden Einleitungsvortrag einen problemorientierten Überblick über den Stand der Forschung und stellten für das Tagungsthema grundlegende Thesen zur Diskussion. Alexander Schlaak erinnerte zunächst an die korrigierende Leistung der Frühneuzeithistoriker, die gegen die Habermas’sche Dichotomie von repräsentativer Öffentlichkeit bis Ende des 17. Jahrhunderts und relativ unvermittelter bürgerlicher Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert aufbegehrt hatten und in zahlreichen Detailstudien die nötige Differenzierung für die deutschen Gebiete der frühen Neuzeit einforderten. Schlaak ging zudem auf sozialhistorische Studien ein, die gegen die Habermas’sche Degradierung der unteren Schichten zu passiven Zuschauern zahlreiche Gegenbelege eruiert haben. Christian Hochmuth forderte vor dem Hintergrund einer diffus vielfältigen, unspezifischen und hochfrequenten Verwendungsweise des Begriffs Öffentlichkeit zu Definitions- und Abgrenzungsleistungen auf, welche durch den jeweiligen Kontext und Forschungsansatz hinlänglich zu begründen seien. In diesem Zusammenhang betonte er die Ansätze des Münsteraner Sonderforschungsbereichs (SFB), der vor allem die Kategorie der medialen Verfasstheit von Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerufen hat, die für die Partizipation an und Konstitution von Öffentlichkeit grundlegend ist. In der Mitte des 17. Jahrhunderts findet ein Wandel im Umgang mit Printmedien statt, Bildung wird zugänglicher und Wissen differenziert sich aus. Diesen Prozess galt und gilt es zu untersuchen, die an ihm Partizipierenden wie die ihn Motivierenden, die Medialität seiner Öffentlichkeit bzw. die Tradierung von neu erschlossenem Wissen und die Ausbildung von Teilöffentlichkeiten und deren Lokalisierung bzw. Zugangsmodalitäten. Dann erteilte Christian Hochmuth SUSANNE RAU (Dresden) das Wort, welche die Moderation des ersten Tages übernahm.

Die weiteren Beiträge lagen zuvor als Skriptfassungen vor und wurden von den Autoren während des Workshops nochmals entlang der Hauptargumente vorgestellt. In seinem Vortrag ging SEBASTIAN VON STAUFFENBERG (Konstanz) auf die Differenz von performativer und medial verfasster Öffentlichkeit am Beispiel des Herrschereinzugs von Ludwig XIII. 1629 in Dijon und der 1632 erfolgten Entrée des Prince de Condé, des Gouverneurs der Provinz, ein. Er konnte zeigen, dass entgegen Habermas’ Konzept der repräsentativen Öffentlichkeit bei einem Herrschereinzug die Stadtbevölkerung keineswegs als einheitliche, sich devot und passiv in die ihr zugewiesene Rolle fügende Gruppe agiert, sondern dass sich vor allem in den medialen Inszenierungsformen von Festschrift und Triumphbogen, aber auch im begleitenden Schauspiel Teilöffentlichkeiten und Gegendiskurse zur monarchischen Selbstinszenierung aufzeigen lassen. Der städtische Rat generierte durch die Bestimmung der Bildprogramme für die Triumphbögen, die Abfassung der Festbeschreibungen bzw. eines Theaterstücks medial Öffentlichkeit und nutzte diese zur eigenständigen Statuspolitik. So spart beispielsweise die Festschrift von 1629 die für die städtische Obrigkeit entehrende Verweigerung der Privilegien durch den Monarchen aus, wodurch der königlichen Machtentfaltung Raum genommen wird, der der Beschreibung der Triumphbögen eigener Provenienz zuteil wurde, welche zur Warnung vor einer Rebellion durch die Bürger genutzt wurde. Diese Warnung stand im Zeichen der Angst des Rates vor dem Verlust der städtischen Privilegien im Falle einer Niederschlagung, die 1629 durch den Gouverneur in Dijon erfolgte, nachdem die Weinbauern gegen eine Steuererhöhung rebelliert hatten. Doch gelang es dem Rat innerhalb von zwei Jahren sämtliche Privilegien zurückzugewinnen. Stauffenberg wies diesen Erfolg des Rates in der Festbeschreibung des Einzuges des Gouverneurs 1632 nach, in der fünf Triumphbögen auf etwa 100 Seiten beschrieben werden, die sich lediglich zu einem Drittel dem Herrscher widmen, während sie ansonsten auf die Stadt und auf die Tradierung des Rates eingehen. Stauffenberg konstatiert, dass Öffentlichkeit medial durch die städtische Obrigkeit zur eigenen Repräsentation im Anschluss bzw. parallel zur monarchischen Machtentfaltung erzeugt wird. Zum anderen verwies er auf den Zusammenhang von medialer Ausdifferenzierung und inhaltlicher Differenz, sodass politische Botschaften dem Zielpublikum entsprechend dargeboten wurden, eine einheitliche kollektive Vermittlung jedoch unmöglich war. Subversiv in den Triumphinschriften und direkt in den Festschriften wurden politische Ansprüche und Wahrnehmungsstrategien der städtischen Oberschicht transportiert oder im karnevalesken Theaterstück der Unterschicht vermittelt. Dabei wurde auf verschiedene Wissensbereiche, Teilöffentlichkeiten und übergeordnete Diskurse rekurriert, etwa auf die Geschichte der Stadt oder auf die Literatur zurückgegriffen. In dem Dijoner Beispiel sieht Sebastian von Stauffenberg einen Beleg für die strategische Verwendung von Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit in frühneuzeitlicher Medien- und Öffentlichkeitspolitik.

MATTHIAS GEORGI (Gießen/ München) untersuchte Öffentlichkeit anhand der medialen Inszenierung von (imaginierten) Naturkatastrophen in der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Printmedien Londons. Er ging der Frage nach, welchen Einfluss Publizistik als Kommunikationsort auf die Öffentlichkeit hat, indem er die Nachhaltigkeit der Berichterstattung in der Bevölkerung untersuchte, nach der Universalität bzw. Restriktion der Teilhabe am Diskurs fragte und die Verfahren der Teilhabe bzw. Ausgrenzung nachzeichnete. Der Diskurs über Naturkatastrophen hielt sich in London vom Erdbeben 1750 bis zum Ende der Dekade und Georgi zeigte, dass die rezeptive Teilhabe am Diskurs an das Medium der Schriftlichkeit und Lesefähigkeit gebunden war, nicht zuletzt aber über Mündlichkeit Verbreitung fand. Die Tatsache, dass die Bevölkerung mit Flucht und Angst auf die publizistische Behandlung reagierte, belegt die großen Kenntnisse der Tagespresse. Bei den Autoren entsprechender Fachartikel und Pressebeiträge handelte es sich dagegen um Personen mit entsprechendem Fachwissen oder gesellschaftlicher Position, die sie zu Ratgebern und Wortführern legitimiert, etwa Pastoren, welche gleichzeitig durchaus naturwissenschaftliche Studien betrieben, wie CHRISTOPH HEYL (Frankfurt am Main) in der Diskussion bemerkte. Georgi konnte zeigen, dass der Diskurs über Erdbeben in fachwissenschaftlichen oder lebenspraktischen Journalen wie dem „Gentleman’s Magazine“ dem in Predigten glich. Außerdem war der Diskurs von 1750, in dem Ursachen und Entstehung erklärt werden, 1755 noch so präsent, dass der Folgediskurs nahtlos anknüpfen konnte, aber nun die Deutung zentral wurde. Nach Georgi sollte Öffentlichkeit deshalb als Form rationaler Kommunikation, als Ort, an dem Interpretation und Wertung von Information stattfindet, verstanden werden. Georgi leitete aus dem frühneuzeitlichen Diskurs zu den Naturkatastrophen in London drei Teilöffentlichkeiten ab: jene der fachwissenschaftlichen Experten, die das Unglück erklärten und deuteten, die der publizistischen Vermittler, in welcher die Gebildeten und Literati in Austausch traten, sowie jene des unspezifisch bleibenden Restes, der als illiteratus vom aktiven Diskurs ausgeschlossen und auf die rezeptive Vermittlung durch andere angewiesen blieb. Ausgehend von seinen Analysen führte Georgi die Universalität des Diskurses auf das Thema der omnipotenten Naturkatastrophe zurück, ging auf die Schwierigkeit der Erfassung der heterogenen Adressaten ein und betonte, dass Habermas’ Kriterium der Rationalität keine Teilnahme am Diskurs garantierte, auch keine notwendige Voraussetzung darstellte, wohl aber als Norm den Diskurs veränderte und beeinflusste. Christoph Heyl befand eine derart starke Abgrenzung von Teilöffentlichkeiten gerade für das London des 18. Jahrhundert mit seiner starken Mittelschicht für problematisch und gab die von Georgi dargestellte Überschneidung von Fachexperte und Publizist sowie Pfarrer und Rezipient zu bedenken. ANDRÉ KRISCHER (Münster) und Gerd Schwerhoff hoben die Bedeutung der Predigt als Quelle einer für die Konstituierung öffentlicher Meinung wichtigen normativen Institution hervor. ULRICH ROSSEAUX (Dresden) empfahl, auf das Attribut der Imagination zu verzichten, da die Naturkatastrophe des Erdbebens real erfahrbar war, wenn auch die Erde nicht unterging.

Im anschließenden Vortrag beschäftigte sich ERIC PILTZ (Dresden) mit den Nachbarschaften in der vormodernen Stadt am Beispiel von Coesfeld und Andernach. Die organisierte Nachbarschaft als sozialkaritative Einrichtung mit dem Ziel gegenseitiger Hilfe- und Schutzleistung gliedert den vormodernen Stadtraum und markiert den Grenzbereich von Privatem und Öffentlichem als dem Übergang von benachbarten Privathäusern zu Nachbarschaftsquartieren, die durch Kirchspiel und Brunnen zusammengefasst wurden. Eric Piltz betrachtete Öffentlichkeit stärker als Eigenschaft in Abgrenzung vom Antonym Privatheit. Als städtische Ordnung im Kleinen – mit jährlichen Treffen, Amtmann, Schultheiß, Schöffen und Knecht – bildeten Nachbarschaften eine Teilöffentlichkeit. Sie konnten als Instrument obrigkeitlicher Machtausübung fungieren, indem sie deren Normen auf unterer Ebene durchsetzten bzw. selbstnormierend auf die unmittelbare Umgebung innerhalb der Stadt Einfluss nahmen. Markant an der Teilöffentlichkeit der Nachbarschaft war, dass Integrationszwang in die städtische Gemeinschaftsform bestand, sodass circa 200 bis 300 Personen, die nebeneinander wohnten, eine Nachbarschaft bildeten und durch den gemeinsamen Eid auf die eigenen Statuten sich in die bestehende Ordnung integrierten. Öffentlichkeit als Vorbringen eines Anliegens vor Publikum, als Überschreitung des Privaten erfolgte innerhalb dieser Gemeinschaftsform während gemeinsamer Feiern und des jährlichen Treffens, bei dem die Ämter gewählt, Straf- und Regulierungsmaßnahmen für kleinere Konflikte verhängt und die Protokollbücher verfasst wurden. Öffentlichkeit als beobachtbares und kommunizierbares Verhalten von Personen dürfte aufgrund der sozialen wie architektonischen Nähe in einer Nachbarschaft omnipräsent gewesen sein. Zwischen Denunziation an die Obrigkeit und gemeinsamem Vorgehen gegen normative herrschaftliche Eingriffe in die beanspruchte Autonomie bewegt sich der Handlungsspielraum dieser sozialen Institution, die laut Piltz neben der Verpflichtung zur Hilfe im Brandfall vor allem in Ehrkonflikten regulierend wirkte. Nachbarschaften konnten folglich als Multiplikatoren von Öffentlichkeit wie als Wächter des Privaten fungieren.

Am Samstag leitete André Krischer die Diskussion. Ulrich Rosseaux’ Beitrag beschäftigte sich mit der Fest- und Unterhaltungskultur als einem Bereich von Öffentlichkeit in der vormodernen Stadt. Feste im Kontext herrschaftlicher Machtentfaltung können mit Habermas als repräsentative Öffentlichkeit bezeichnet werden, nicht zuletzt weil sich in ihrem Vollzug die ständische Hierarchie abbildete, sowohl im Publikumsplatz als auch im geordneten Nacheinander in Prozessionen. Allerdings sieht Rosseaux die Grenzen der Operationalisierung dieses Konzepts im Fokus der Fest- und Unterhaltungskultur an öffentlichen Orten wie den Herrentrinkstuben, Gasthäusern oder in Zünften bzw. Korporationen, in denen die Verhältnisse weniger fest als bei Fürst und Untertan waren. Wenig hilfreich erscheint ihm Habermas’ Kategorie auch, um die Machtansprüche der Stadträte zu untersuchen, welche durchaus landesherrschaftlichen Maßstab hatten, jedoch nicht durchgesetzt werden konnten, was sich in den städtischen Festen manifestiert. Rosseaux bevorzugte daher die Verwendung des vor allem im Münsteraner SFB geprägten Konzepts der symbolischen Kommunikation, welche sowohl für die Entstehung eines modernen Unterhaltungsmarktes als auch für die höfische Festkultur ertragreich sei und weniger auf eine Teleologie vom ritualisierten, hierarchisierten Hoffest der fürstlichen Machtrepräsentation hin zur pluralistischen, kapitalistischen, bürgerlichen Unterhaltungs- und Konsumgesellschaft ziele. Was für die polyfunktionale Ausdifferenzierung der Printmedien um 1800 gilt, könne auf den Unterhaltungssektor übertragen werden: der Schaustellungsbereich reicht von Exotenschauen, Monstrenausstellungen über Artistendarbietungen, von kleinen Jahrmarktsattraktionen, Feuerwerkssalven bis zu wissenschaftlichen Sammlungen. Der Zugang zu diesen Vergnügungsöffentlichkeiten wurde zunehmend über die Eintrittspreise bestimmt, sodass ständische Hierarchien beibehalten blieben, jedoch durchlässiger wurden, da statt der Geburt die ökonomische Situation entschied. Im Bereich der kommerziellen Unterhaltung wird die Öffentlichkeit durch ein zahlendes, Zerstreuung suchendes Publikum und Außergewöhnliches vorführende oder darstellende Akteure konstituiert, die in einen Austausch nach konstitutiven Normen treten, symbolisch kommunizieren. Rosseaux plädierte abschließend dafür, von Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff abzukehren und über alternative Modelle bzw. Operationalisierungsangebote nachzudenken. Alexander Schlaak schlug vor, die Operationalisierbarkeit der repräsentativen Öffentlichkeit auf die Festkultur in Residenzstädten zu reduzieren, während andere Städtetypen die Grenzen dieses Konzepts deutlich werden ließen. Gerd Schwerhoff wandte gegen Rosseaux’ Vorschlag, das Konzept der symbolischen Kommunikation zu verwenden, ein, dass diese ein methodisches Instrument sei, das durchaus mit dem Habermas’schen Konzept der repräsentativen Öffentlichkeit kompatibel sei. CORNELIA BOHN (Luzern) hielt den Ansatz der Erforschung des Marktes am Beispiel des Unterhaltungssektors für überzeugend und plädierte für Operationalisierungskonzepte, die nicht von der Politik her gedacht seien, da diese selten die Gesellschaft insgesamt erfassen würden. Sie betonte die ständischen Strukturen im Preisfindungsprozess, denn Standespersonen konnten oft geben, was ihnen beliebte, während für alle anderen ein fester Preis galt. Weiterhin gab sie zu bedenken, dass Habermas kein Historiker sei. Daran anknüpfend argumentierte Susanne Rau für die Historisierung des Habermas’schen Konzeptes und hob hervor, dass Habermas’ Leistung in der erstmaligen systematischen Bearbeitung der wichtigen gesellschaftlichen Kategorie der Öffentlichkeit bestanden habe und dass es die Aufgabe der Historiker/innen sei, auf die Komplexität der historischen Realität gegenüber den modellhaften Theorien hinzuweisen. Christoph Heyl verteidigte Habermas’ Ansatz als an englischen Verhältnissen orientiert. Denn mit Ende der Zensur im England der frühen Neuzeit, einem Bürgertum, das an Macht partizipiert und sich in pleasure gardens selbst höfisch mit Feuerwerk und Tanzdarbietungen inszeniert, kann von dem Übergang von einer repräsentativen Öffentlichkeit am königlichen Hof zu einer kritisch-räsonierenden in den pleasure gardens gesprochen werden, zu der jeder, der sich ein Ticket leisten kann, Zugang erhält.

PATRICK SCHMIDT (Gießen) widmete sich in seinem Beitrag dem Einfluss auf bzw. der Teilhabe an Öffentlichkeit durch die Zünfte. Er konstatierte zunächst die in der Forschung holzschnitzartig getroffene Polarisierung von egalitärer räsonierender bürgerlicher Öffentlichkeit in den Aufklärungssalons und -gesellschaften und der restringierten Öffentlichkeit „dunkler“, reaktionär-hierarchisierter Zunfthäuser. Zunächst zeigt Schmidt, dass man damit das Argumentations- und Tradierungsmodell der Aufklärer unreflektiert übernehme. Zum anderen kann er belegen, dass auch Zunftangehörige Mitglieder in Aufklärungsgesellschaften waren, dass die Spezialisierung der Handwerksberufe vor allem im feinmechanischen Bereich wie die modernen Wissenschaften Bildung und Expertentum verlangte und dass auch im kulturellen Feld mit Zunftgesängen oder dem Meistergesang die vom Bürgertum für sich rekurrierten Werte Bildung und Kunst vereinnahmt wurden. Schmidt will die Zünfte keineswegs als progressiv verstanden wissen, wehrt sich jedoch gegen ihre Tradierung als Hort des ignoranten Reaktionismus. Außerdem stellt er das Ideal bürgerlicher Gleichheit und Freiheit infrage, wenn er zu bedenken gibt, dass auch die Gelehrtenkreise nicht so egalitär und frei von ökonomischen Interessen gewesen sein dürften, wie sie sich selbst inszenierten oder die Forschung sie stilisiert. Er belegt ferner, dass gerade die publizistischen Potentiale des expandierenden Buchmarktes von den Zünften für ihre Konstituierung und Tradierung genutzt wurde, wobei in Lobsprüchen und Ursprungserzählungen bzw. den Zunftchroniken Argumentationsstrukturen aufscheinen, die denen der Gelehrtenkultur gleichen. Nicht zuletzt betont Patrick Schmidt die Bedeutung der hierarchisierten Zunftorganisationen als Kommunikationsnetze und Kristallisationspunkte innerhalb der frühneuzeitlichen Stadt, deren Potential für die Meinungsbildung und Konstitution von Öffentlichkeit bisher unterschätzt bzw. zu negativ bewertet wurde. Ulrich Rosseaux wies auf die Parallelmitgliedschaften in Zunft und Lesegesellschaften hin und forderte Untersuchungen ein, die dem Weg der Übernahme von Argumentationsmodellen zwischen den Institutionen nachfolgen. Matthias Georgi problematisierte, ob denn wirklich der Zunftmeister als Vertreter seiner Institution in der Aufklärungsgesellschaft Mitglied war, oder nicht viel mehr als rationales Individuum, das sich den dortigen Kommunikationsnormen unterordnet, sodass ein von Schmidt als Beispiel vorgetragener Hamburger Zunftmeister keineswegs als schizophren wahrgenommen worden sein muss, wenn er gleichzeitig als Mitglied eines Aufklärungssalons die Abschaffung der Zünfte propagierte. Gerd Schwerhoff betonte die unterschiedliche Bildung innerhalb der Zünfte, welche bei den Schreibern bzw. Vorstehern ausgeprägter gewesen war, und deshalb Rückschlüsse von den Zunftbüchern auf den Bildungsgrad der Zunftmitglieder problematisch erscheinen. Ebenso zweifelte er an, dass die Eintragungen der Zunftbücher Ergebnisse von Diskussionen aller Mitglieder waren, sondern hielt es für wahrscheinlicher, dass lediglich bei Konfliktfällen die Formulierung austariert wurde. Rosseaux und Piltz stimmten Schmidts Ansatz zur Neubewertung der Zünfte und ihres Einflusses auf die öffentliche Meinung zu und verwiesen vor allem auf die großen Zünfte der Schneider und Schuhmacher. Susanne Rau betonte die Zünfte als Schnittstelle von oralem und Schriftmedium, wobei sie erwog, ob die Zunftchroniken und ihr Aufkommen als Hinweis auf die Verdrängung der auf Mündlichkeit basierenden Zunftkultur gedeutet werden können. Zudem verwies sie auf die Bereitstellung von Zunftsälen für bürgerlich konnotierte Vergnügungsformen wie Oper, Theater und Musik, womit sie konstitutiv an der Erzeugung von Öffentlichkeit teilnahmen.

TIM NEU (Münster) leistete mit seinem Abschlussreferat ein Resümee des Workshops, in dem er konstatierte, dass Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ein zentrales Thema erstmals systematisch untersucht hat, zum anderen durch Kritik, Dekonstruktion und Historisierung einer anhaltenden Wirkungsgeschichte unterliegt. Mit Matthias Georgi sah Tim Neu das Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit weniger an soziale Trägerschichten und Medien, sondern vielmehr an den aufgeklärt-bürgerlichen Diskurs als Kommunikationsnorm gebunden. Dessen postulierte Spezifika der Allgemeinheit, Sachlichkeit und Rationalität konstituieren öffentliches Räsonnement als Medium bürgerlicher Öffentlichkeit. Neu erinnerte daran, dass Georgi zeigen konnte, dass gerade diese Kriterien die Habermas’sche Norm der Macht- und Herrschaftsfreiheit im neu entstehenden Diskurstyp verhinderten, da alle, die aufgrund mangelnder finanzieller oder sozialer Ressourcen die Kriterien nicht erfüllen, vom Diskurs ausgeschlossen bleiben. Dementsprechend werden die von Patrick Schmidt thematisierten Zünfte aufgrund ihrer hierarchischen, folglich nicht allgemeinen und egalitären Struktur von der sich dem deliberativen Rationalitätstyp verschreibenden Öffentlichkeit verdrängt, die laut Neu auf frei verfügbare Presseerzeugnisse wie das „Gentleman’s Magazine“ und ebenso frei zugängliche Orte der Sozialität wie Kaffeehäuser fußte. Die Leistung von Habermas’ Konzept sieht Tim Neu folglich im zentralen Fokus auf der Herausbildung einer neuen, im Ideal einheitlich statt ständisch fragmentierten Öffentlichkeit, deren Diskurs nach neuen Regeln funktionierte. Die Kritik an der von Habermas vorgenommenen stereotypen Polarisierung von repräsentativer und bürgerlicher Öffentlichkeit, an der Homogenität der jeweiligen Trägerschichten sowie an dem Kausalerklärungsmodell der Entstehung von bürgerlicher Öffentlichkeit durch den aufkommenden Kapitalismus und das Auseinanderdriften von Staat und Gesellschaft hat laut Neu zu der Untersuchung ganz differenter Öffentlichkeitstypen geführt, die individuell und lokal differenziert Medien, Inhalte und Rationalitätstypen mischten. Mit Eric Piltz möchte Tim Neu Öffentlichkeit stärker als Eigenschaft begriffen wissen, was anstatt der bürgerlichen Öffentlichkeit den Fokus eher auf ihr Produkt, die dann öffentliche Meinung, lenkt. Mit der Eigenschaft des Öffentlich-Seins geht für Neu die „Dignität des Allgemeinen“ einher, die auf Personen, Institutionen, Räume und Inhalte übertragbar ist. Öffentlichsein als Eigenschaft kann dann nicht mehr als Faktum aufgefasst werden, sondern stellt sich als Ergebnis von Zuschreibungspraktiken ein. So werden aus Privatpersonen oder individuellen Interessen öffentliche Personen und Meinungen wie aus architektonischen Anordnungen durch soziale Zuschreibung Nachbarschaften generiert werden. Tim Neu plädiert daher dafür, im Umgang mit Öffentlichkeit Zuschreibungspraktiken und -systeme zu eruieren, die zur Zuweisung von Öffentlichsein führen. Damit eng verbunden sieht er die Praktiken der Raumkonstitution in vormodernen Gesellschaften. Allerdings wendet Neu gegen Piltz' Reduzierung der Öffentlichkeit als einer Seite eines binären Codes ein, dass man so kaum erklären kann, warum gerade die bürgerliche Öffentlichkeit sich massiv gegen andere Formen von Öffentlichkeitszuschreibung durchsetzen konnte, und plädiert für eine graduelle Abstufung zwischen zwei Extrempolen, der der Öffentlichkeit und dem der Privatheit. Zudem spricht Neu von hegemonialen und marginalisierten Öffentlichkeiten, wobei die hegemoniale auf der Zuschreibung basiert, das Allgemeininteresse am besten zu vertreten. Offensichtlich entwickelte sich diese aufgeklärt-rationale Zuschreibung von Öffentlich-Sein zur hegemonialen Form in der frühen Neuzeit, ohne dabei andere Öffentlichkeiten völlig zu entmachten. Neu schlägt dementsprechend für die kommunale Binnenstruktur vor, die hegemoniale Öffentlichkeit bei den Stadträten zu verorten, während Zünfte und Nachbarschaften marginalisierte Öffentlichkeiten unterhalten, welche in Zeiten von Ratskrisen das Brüchigwerden der hegemonialen Stellung obrigkeitlicher Öffentlichkeit markieren und neue Formen von Legitimation und Macht als Produkte unterdrückter Öffentlichkeit erscheinen lassen.

In der abschließenden Diskussion wurde die Beschäftigung mit Öffentlichkeit für die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg als Forschungsdesiderat aufgeworfen. Gerd Schwerhoff wies auf die besondere Bedeutung der Flugschrift als Quellentyp hin, deren Diskursmächtigkeit wenig erforscht sei, zu der der Zugang jedoch weniger sozial beschränkt war. Cornelia Bohn gab zu bedenken, dass Habermas gesellschaftstheoretisch längst obsolet geworden sei. Als Ergebnisse wurde die mediale Verfasstheit und Inszenierung von Teilöffentlichkeiten festgehalten und damit der Einfluss der neu entstehenden Medien erneut betont. Matthias Georgi plädierte für ein integratives Verständnis der Habermas’schen Gegensätze von repräsentativer und bürgerlicher Öffentlichkeit und näherte sich damit Neus Konzept der graduellen Abstufung an. Schmidt stimmte ihm zu, da auch die repräsentative Öffentlichkeit auf alle Schichten übertragbar sei, da jeder um sozialen und ökonomischen Status ringe, mithin sich und seine Gemeinschaft repräsentiere. Eric Piltz wies auf die Überterminierung des Begriffs Öffentlichkeit hin, dessen semantische Unschärfe von der Eigenschaft, über einen Personenkreis zu einem emphatischen Normativ reicht, was im wissenschaftlichen Diskurs zu wenig Beachtung fände und folglich zu Verständnisproblemen führe. Neu schloss sich der Mahnung an die eigene Zunft an, indem er forderte, sich nicht simpel für eine Zuschreibung zu entscheiden, sondern die mögliche Vielfalt und eigene Zuschreibungspraxis zu reflektieren. André Krischer vervollständigte die Selbstkritik, indem er lobend die Leistungen der Frühneuzeithistoriker für ihre Epoche hervorhob, warnte jedoch davor, die sich anschließende Moderne wie das vorausgehende Mittelalter nicht ebenso holzschnittartig zu zeichnen, wie Habermas die Frühmoderne sah. Zum anderen wies er auf den Machtverlust der Öffentlichkeit in der Moderne hin. Daran anschließend sei zu fragen, wann die Sogwirkung nachließ und warum Öffentlichkeit in der Moderne zum Symbol wurde. Seine Fragen lauten: Wann lässt die Sogwirkung nach und warum wird Öffentlichkeit in der Moderne zum Symbol? Während Heyl für England diese Frage am Rückzug ins Private im 18. Jahrhundert festmachte, der sich auch architektonisch in Studierzellen für Einzelpersonen manifestierte, hielt Krischer seine These aufrecht, was privat und öffentlich sei, sei unabhängig von Raum und Performanz zu sehen.

Die abschließende Diskussion diskutierte Integrations- bzw. Graduierungsmodelle, um der Pluralität von „Formen, Medien und Orte[n] von Öffentlichkeit in der vormodernen Stadt“ in deren Differenziertheit gerecht zu werden. Durch die Breite und Tiefe der Diskussion belegte der Workshop, wie produktiv und anregend die Beschäftigung mit der Frage der Öffentlichkeit immer noch ist.

Kurzübersicht

Gerd Schwerhoff: Institutionelle Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit. Zum Forschungsansatz des Teilprojekts

Alexander Schlaak/ Christian Hochmuth: Formen, Medien und Orte der Öffentlichkeit in der vormodernen Stadt. Einleitende Bemerkungen

Sebastian von Stauffenberg: Festbeschreibungen und Straßentheater. Mediale Öffentlichkeit im frühneuzeitlichen Dijon

Matthias Georgi: Naturkatastrophen, Medienereignisse und Öffentlichkeit im London des 18. Jahrhunderts

Eric Piltz: Weder öffentlich noch privat: Nachbarschaften in der frühneuzeitlichen Stadt. Forschung und Fragen

Ulrich Rosseaux: Öffentlichkeit und Unterhaltung in der frühneuzeitlichen Stadt

Patrick Schmidt: Zünfte und "bürgerliche Öffentlichkeit": Überlegungen zu einem spannungsreichen Beziehungsfeld

Tim Neu: Kommentar zum Workshop "Formen, Medien und Orte der Öffentlichkeit in der vormodernen Stadt


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